Hier ein paar Auszüge aus der Prosa

  Der prächtige Schein der Aurora verblasst, je höher die Sonne über den Horizont steigt. Der Morgenhimmel erstrahlt in majestätischem Azurn, stellenweise übertupft von ein paar Cirruswölkchen, wie ein Hermelin, und musikalisch begleitet vom orchestralen Singsang der Gartenpiepmätze. Ein sonniger Frühlingstag, der heißeste seit der ersten Wetteraufzeichnung.

  Von Zeit zu Zeit durchbricht eine angenehm kühle Brise die Mauer aus Säulen stehender Luft und Hitze; für Anfang April ein unglaublich heißer Tag, noch dazu für vormittags. Bodo kommt sich vor wie im Schmelztiegel eines Hochofens, als er neben dem verschnürten Bündel so dahockt. Er schiebt das Bündel weiter in den Schatten.

  An solch einem Tag würde niemand arbeiten wollen, lieber chillen oder zumindest anstrengende Tätigkeiten vermeiden, als sich, in welcher Form auch immer, zu verausgaben. Doch Bodo Mann-Koop ist heute gefordert, er wird heute an seine äußerste physische Leistungsgrenze stoßen, wird sich so richtig verausgaben müssen.

  Bereits das Hinübergeschleppe des in hellblauer, dicker Folie eingeschlagenen Bündels, vom Geräteschuppen bis zur gegenüber liegenden Gartenseite, zehrt dermaßen an seinen Kräften, dass er resigniert zu sich selbst spricht:

  »Hätt‘ mir doch den Minibagger ausleihen sollen, verdammt. Das hätte vielleicht sogar Fun gebracht. Aber nee.«

  Mit Spitzhacke und Spaten bewaffnet sagt er seinem inneren Schweinehund den Kampf an, zwar mit gedrosseltem Elan, jedoch pflichtbewusst. Die Sache muss eben erledigt werden, wie vereinbart – sein Job. So schlurft er motivationslos zum Geräteschuppen, betritt diesen und verzagt, hält kurz inne, weil ihn ein seltsames Gefühl beschleicht. Ein leichtes Frösteln ereilt ihn. Vielleicht nur wegen der Temperaturschwankung, weil es im Schuppen nicht so heiß ist?

  >Irgendwas ist hier heute anders>, spürt er, als sich ihm auch schon Arm- und Nackenhärchen sträuben. >Irgendwas ist anders als sonst. Aber was?<

  Er schaut zum Blechschrank, in dem diverse Putzmittel, Pflanzendünger sowie andere Materialien und Utensilien für die Gartenpflege aufbewahrt werden, dann zum Werkzeugregal über der Werkbank, wo mittels angebrachtem Stecksystem einige Gerätschaften hängen, mitunter auch ein kleiner Fäustling, ein Einkilohammer.

  >Der hängt ja schief an der Steckwand. Wie unser Haussegen, der hängt momentan auch schief, gehörig schief<, spinnt Bodo in Gedanken.

  Er schnappt sich die beiden Geräte, klemmt sich ein großes Stück schwarze Pflanzfolie unter den Arm und stratzt zurück in den Garten hinters Haus.

  In der südöstlich gelegenen Ecke des Rasenstückes, an den Außenrändern, im Schatten zweier Zypressen, von zwei Rhododendren und einem Weißdornbusch flankiert, sticht er ein paar Soden ab, bis ein etwa siebzig mal hundertvierzig Zentimeter großes, erdbraunes Rechteck entsteht.

  Gedenkt Bodo dort etwa eine neue Rabatte anzulegen – oder was treibt ihn um? Nein, natürlich nicht, Bodo entspricht so gar nicht dem Gärtnertyp. Die gärtnerischen Tätigkeiten überlässt er gern seiner Frau Alina und Töchterchen Emma. Nein, er schachtet eine Grube aus, einen Meter vierzig tief.

  Bodo blickt auf den von einer Bö bewegten, flatternden Zipfel der umgeschlagenen, hellblauen Plane, neben dem Abraumhügel auf der ausgebreiteten, schwarzen Folie mit der klebrigen, grau-braunen Erde, und auf das geheimnisvolle Etwas darunter …

  Ein urplötzliches Gefühl der Beklemmung stellt sich bei ihm ein. Ist es Trauer, wegen Oscars plötzlichen Verscheidens –? Und dazu noch dieses Gefühl, dass er beobachtet werden könne, bei dem was er da tue. Er steht unter Stress an diesem Morgen, in diesem Moment. Aber er will fertig sein, bevor seine Frau mit seiner Tochter wieder eintrudeln würden.

  Schweiß perlt von seiner Stirn. Auf den Spaten gestützt sieht er sich um, im ganzen Garten, ein totaler Rundumblick, getrieben von dem Gefühl, hier nicht allein zu sein. Aber wer solle denn schon da sein? Nachbarn, die von ihren Grundstücken diesen Bereich hätten einsehen können, sind keine zugegen, sind entweder noch im Haus oder bereits fort zur Arbeitsstelle, sofern sie noch eine haben. Denn das ist in diesen Zeiten fraglich, wo täglich mehr Firmen den Bach heruntergehen oder zumindest in Kurzarbeit.

  Ein Amselmännchen sowie ein paar Spatzen in der Ligusterhecke zwitschern eifrig ihre Hymne. >Oder ist es ein Requiem gewesen –? An diesen wundervollen Morgen adressiert, der in der Tat ganz besonders ist.<

  Alina und Töchterchen Emma suchten nach Abwechslung; alle drei hätten gern einen Ausflug unternommen, auch wenn das unter den gegenwärtigen Lockdown-Bedingungen und Kontaktbeschränkungen in der Coronapandemie nur schwerlich möglich sei. Doch aus gegebenem Anlass haben sie am Frühstücks-tisch anders entschieden, nämlich dass Alina zuerst in die Firma und Emma zu ihrer Freundin und sie dann zusammen in den Baumarkt fahren würden, um ein paar Holzleisten zu besorgen. Und Bodo solle derweil im Garten alles vorbereiten.

  >Ob sie eventuell schon wieder zurück sind<, grübelt er, gar selbst völlig aus der Puste vom emsigen Buddeln. »Alter Schwede«, klingt es gequält aus prustendem Munde. Schnaufend setzt er sich neben den Hügel ins Gras und wischt sich mit dem T-Shirt den Schweiß aus dem Gesicht.

  >Da, schon wieder<, konstatiert er jählings, >da ist doch irgend jemand. Ach – na wenn schon. Gibt bestimmt noch viele andere, die sowas hier auch schon mal gemacht haben. Wer sollte mich schon beobachten wollen –? Und warum?< – fragt er sich. Wahrscheinlich sei ihm nur die Hitze des frühen Tages in den Kopf gestiegen, und er bilde sich das alles nur ein.

  »So, und weiter geht‘s. Jetzt noch die Schaufel holen. Dann wird‘s vollbracht.«

Das Ausschachten hat viel Zeit in Anspruch genommen, nun muss er sich sputen, wenn er vor Ankunft der anderen alles fertig haben will. So haben sie es schließlich ausgemacht.

  Während Bodo zum Geräteschuppen latscht, um die Spitzhacke gegen eine größere Schaufel zu tauschen, entsinnt er sich des Ehestreits vorm Frühstück.

  Emma war noch in ihrem Zimmer gewesen. Alina sorgte sich, ihr schwante, auf welche prekäre Situation die Familie zusteuern würde und konnte nicht länger ansichhalten. Wo solle das alles noch hinführen? Er, Bodo, seit kurzem arbeitslos, und sie, Alina, mit ihrer Firma seit kurzem knapp vor der Insolvenz.

  »Eine einzige Katastrophe!«

  Der Zeitpunkt für diesen Streit sei schlecht gewählt gewesen, findet Bodo. Als ließe sich dafür jemals ein geeigneterer Zeitpunkt finden; Streit kommt und geht, wann er will. Gemeint sind nicht jene verabredeten Streitgespräche, die unter Moderation geführten Diskussionen, die in den aller meisten Fällen zivilisiert ablaufen und glimpflich enden, versöhnlich oder ungeeint, ganz egal. Gemeint ist jene Form, die aus angestauten Spannungen, spontan und unvorbereitet, wie aus einem Vulkan eine pyroklastische Wolke emporspeiend, ganz plötzlich auftritt. Sobald die Walze unkontrollierbarer Gefühle die Ratio in die Kniee zwingt, wird es meistens ungemütlich. Sie hatten einander mit hässlichen Vorhaltungen um sich geworfen, sich geradezu fies angegiftet, was Bodo in diesem Moment unendlich leid tut. Zunächst jedoch gilt es, Oscar unter die Erde zu bringen; das genieße absoluten Vorrang.

  Das Grab hat er völlig überdimensioniert ausgeschachtet. >Viel Platz für einen elf Jahre alten Retriever<, aber er solle ja auch in Frieden ruhen können, unbehelligt von Gewürm und Krabbeltierchen, und er solle angemessen bestattet werden. Deshalb sind Alina und Emma unterwegs, sie sollen die Leisten für Oscars Kreuz kaufen.

  Für die neunjährige Emma wenigstens ein winziger Trost, ihrem lieben Oscar, jenem Familienhund, der ihr wie ein Bruder war, auf diese Weise die letzte Ehre erweisen zu können, auch wenn sie von dem Begriff Ehre noch keinen Schimmer hat. Sie ist zutiefst traurig, aber andererseits auch erfreut darüber, gemeinsam mit ihrer Mutter das Grabkreuz für Oscar basteln zu können.

  »Ein richtig tolles Kreuz soll es werden. Mit allem Schnickelschnackel« hat sich Emma von ihren Eltern gewünscht.

Kurz vorm Eintreten in den Schuppen spürt er von neuem, dass etwas anders ist als sonst; er ist schier fassungslos darüber. Eine düstere Intuition, die ihn durchströmt, die aus dem Nichts hervortritt. Dazu erneut ein dunkler, kühler Luftzug. Es fühlt sich bizarr, fremd und eisig an. Doch gibt es dafür keinerlei Anlass oder Erklärung. Alle Dinge befinden sich ganz korrekt an ihrem Platz. Er meint zwar, flüchtig einen Schatten gesehen zu haben, aber das Licht im Schuppen ist ausgeknipst, lediglich das Tageslicht leckt mild mit seiner Zunge über den gefliesten Terracottaboden und bringt etwas Helligkeit ins Innere. Den Schatten habe er sich vermutlich auch wieder nur eingebildet, beruhigt er sich.

  >Warum auch? Ist ja niemand hier.< Nirgendwo ein Mucks zu hören, alles vollkommen still. Kein Hinweis, dass sich jemand im Schuppen aufhalten würde, rein gar nichts.

  Dennoch ist es für ihn spooky, als er die Türschwelle überschreitet; er kann das paranoide Gefühl einfach nicht abschütteln, es haftet an ihm wie eine kalte Haut. Geradezu gespenstisch, als ob es dort spuken würde.

  >Die entfleuchte Seele Oscars etwa –? Also, bitteschön, was ist hier eigentlich los? Ist es ein anderer Geruch? Ah ja, bestimmt. Von Oscar<, denkt Bodo, weil er Oscars Leichnam fürs erste, von gestern auf heute, im Schuppen verstaut hatte. Er findet es plausibel, obwohl ihm weiterhin ein unerklärlicher Schauer über den Rücken peitscht, als sei er ein entdeckter, unduldsamer Parasit, den niemand wollte, den man lieber zum Spießrutenlauf schicken würde, anstatt zu einem Kaffeekränzchen. Zudem erfasst ihn plötzlich eine Atembeklemmung, sein Atem stockt im Nu.

  >Nanu.<

  Tatsächlich ist im Geräteschuppen etwas verändert: Rechts neben dem Eingang prangt eine hellblaue Folie, der Rest der Rolle, mit der er am Vorabend, unter dem Schein des riesigen Vollmondes, Oscar eingewickelt hatte, welche jetzt ausgebreitet auf dem Fußboden des Schuppens liegt.

  >Aber ich hab ihr doch gesagt, dass ich ihn schon verpackt habe –<, stutzt er noch. >Oder habe ich vergessen, sie wegzupacken –? Nein. Eben hat die Folie hier noch nicht gelegen, oder doch –?<

  Plötzlich spürt er den dumpf dröhnenden, harten Schlag eines schweren Gegenstandes an seinem Hinterkopf. Er vernimmt noch das dumpfe Tock sowie seinen eigenen, von Schmerz geschwängerten, agonischen Schrei in seinen Ohren, dann das klatschende Hinplumpsen seines matten Körpers auf die raschelnde, leicht knisternde Folie am Boden.

  Während er vornüber gebeugt zu Boden sackt, gewahren seine vor Erstaunen und Schrecken weit aufgerissenen Augen die leere Stelle an der Werkzeugwand, wo einst der schwere Fäustling gehangen.

 

Auszug, 1. Kapitel von: Wo einst der Hammer hing – oder – die Schuld der Opfer (Krimi)


   Ruckartig und den ganzen Körper seiner starren Lethargie entreißend, erwachte Panko aus unruhigem Schlaf. Aufrecht im Bett sitzend, taxierte er durch seine, vom morphinen Trank verklebten Sehschlitze die vertraut vorkommende Umgebung. Die schlafende Frau neben sich im großen Bett, die er sein nannte, und zuletzt sich selbst. Sein Kopf glich einer Abrissbirne, mit der jemand vierundzwanzig Stunden lang unentwegt Mauern aus Stahlbeton zum Einsturz gebracht hatte. Er rümpfte die Nase, fand, dass er erbärmlich nach Käsemauken und Schweiß röche.
   Unter der Dusche besann er sich des grässlichen Alb mit den Abertausenden von Ameisen und dachte, wie wohl erst der kommende Tag werden würde, nach solch unruhigem Schlaf und fiesen Träumen dazu. Nachdem er sich abgebraust hatte und der Duschkabine entstieg, indes wie ein Esel auf dem Eis ins Schlittern geriet und sich nur unter lachhaften Verrenkungen auf den Beinen halten konnte, fühlte er sich keineswegs frischer oder vitaler, sondern anhaltend wie gerädert.
   Er machte ein paar Kniebeugen vorm Spiegel, um seine lahmen Knchen in Schwung zu bringen, wobei er in geradezu spielerischer Weise zu jeder Steh-auf-Bewegung im Wechsel intonierte, als sänge er Blätter abzupf-end in eine Blume. Sobald sein Kopf bis zu den Schultern im Spiegel zu sehen war, intonierte er freudig: »Sie liebt mich«, war sein Spiegelbild wieder weggetaucht, presste er voller Resignation: »Sie liebt mich nicht.« Nach neunmal »Sie liebt mich« war er vollends aus der Puste, stand, mit beiden Händen auf den Waschbeckenrand gestützt, vorm Spiegel, neigte sich weiter vor, schaute in seine anämisch-galligen und stark geränderten Augen und schüttelte sich leicht vor Ekel. Ekel vor sich selbst –?
Im Vorbeipantoffeln zur Küche, warf er noch einen Blick ins Schlafzimmer. Saskia schlief scheinbar noch immer fest wie Dornröschen in ihrem hundertjährigen Tiefschlaf, die auch der kühle Hauch dieses Morgens durch das angekippte Fenster nicht wach zu küssen vermochte.
   Der Kaffee war bereits fertig, dank dem genialen Erfinder der programmierbaren, vollautomatischen Kaffeemaschine aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Er trank eine Tasse des pechschwarzen, aromatischen Gesöffs im Stehen, stopfte einige Kekse hinterher, bis er plötzlich verspürte, dass sein Darm seiner allmorgendlichen Gewohnheit frönte, woraufhin er geschwind auf der Keramikschüssel hockte und vor sich hin döste, als ihn abermals eine Reminiszenz an diesen grauenhaften Albtraum ereilte.
   »Au mann, warum musste ich gestern nur so viel von diesem braunen Zeug trinken? Wie kann man nur an einem Donnerstag eine Party geben«, wo doch am nächsten Morgen jeder wieder raus müsse?
   Er vermeinte spät dran zu sein, sputete sich, putzte hastig die Zähne, kämmte flüchtig sein blondes, kurzgeschnittenes und bereits schütteres Haar, kleidete sich rasch an und wollte soeben die Wohnung verlassen. Da ertönte aus dem Schlafzimmer Saskias verschlafene Stimme.
   »Schatzi, vergiss bitte den Wurstaufschnitt nicht. Und gib Marena ’nen dicken, fetten Knutscher von mir, hörst du?! Richte ihr bitte aus, dass es mir unendlich leid täte und wir den Besuch der Ausstellung in nächster Zeit unbedingt nachholen werden. Sie dauert ja noch bis Monatsultimo.« Saskia sagte das in einem Ton, der Panko nun gar nicht gefiel.
   »Ja, ja,« klang es akzentuiert gelangweilt. Aber für ‘ne Vernissage gäbe es bloß einmal Gelegenheit, und sie, Saskia, wisse, dass es Marena in erster Linie um die Vernissage ginge, widersprach Panko genervt, fügte aufbegehrend hinzu: »Du scheinst vergessen zu haben - es handelt sich um ihre beste Freundin.« Ohne eine Antwort abzuwarten warf er die Tür hinter sich ins Schloss. An Saskias Wochenendseminar hatte er nun gar nicht mehr gedacht.
   »Dieses blöde Seminar«, raunte er vor sich hin, als er den langen Korridor entlang schritt. In Gedanken bei seiner Tochter, die es sicherlich zutiefst schade fände, gleich am ersten Maiwochenende ihre heißgeliebte Mama entbehren zu müssen; insbesondere sie ohnehin schon genügend Anlass zu Traurigkeit hätte gehabt haben müssen, zumal der diesjährig geplante gemeinsame Sommerurlaub ins Wasser fallen würde, weil Panko bei seiner neuen Anstellung innerhalb der Probezeit noch keinen Urlaubsanspruch geltend machen konnte. Ähnlich verhielt es sich mit den diesjährigen Herbstferien, die wurden von dem en mas anfallenden Arbeitsaufwand in der Werbeagentur, wo Saskia eine Position als Grafikdesignerin bekleidete, für die Herbstmesse vollends durchkreuzt. Gründe zur Traurigkeit existierten für die vierzehnjährige Marena zur Genüge.
   Panko strich seinen krausen Rauschebart glatt und, am Fahrstuhl angelangt, betätigte er in einer roboterhaft anmutenden Bewegung den unteren, orangenen, dreieckigen Knopf. Das milde Sonnenlicht schrägte diffus durch das schmale, hohe Korridorfenster seitlich des Aufzuges. Panko stand wie eine von exklusiven Textilien verhüllte Säule aus schneeweißem Carraramarmor bis zur Hüfte im kupfernen Lichtgebälk, in welchem Myriaden von Staubpartikelchen einher schwebten.
   »Sie wird dieses Seminar verfluchen, ist doch sonnenklar«, konstatierte er für sich, grämte sich sogleich über den zu langsamen Aufzug, der schon längst hätte oben sein sollen. Voller Ungeduld fing er an, nervös mit dem linken Fuß zu tippeln. »Hoffentlich schaff ich das auch alles. Hab doch heute die Innenbezirke«, sprach er zu sich selbst. »Viel Rennerei für nichtsundwiedernichts.«
   Er glättete von neuem seinen kastanienrot mit grau melierten, krausen Vollbart und tippelte immerfort mit dem linken Fuß auf den gewienerten Steinfliesenboden. Dann machte er ein paar Schritte zum Fenster herüber und sah verträumt in den heraufdämmernden Tag.
   Das Panorama aus diesem Fenster war bescheiden. Direkt vor ihm erhob sich das Nachbarhochhaus, ein trister Wohnturm wie die übrigen Seelensilos in dieser Gegend: grau, kantig und schal, kaum mehr als fünfzehn Stockwerke hoch, doch relativ zur restlichen Stadtarchitektur geradezu monströs anmutend. Auch das Sonnenlicht mit seinem Glanz konnte der Stumpfheit des Wohnturmes nichts besonderes abtrotzen, noch seine ausstrahlende Kälte durchbrechen. An jenem Klotz aus mumifizierendem Beton zerschellte jeder Sonnengleiß zur Sinnlosigkeit allen Glanzes und Schönheit. Lediglich die quadratischen Löcher dieses hässlichen Wohnsilos erwiderten den Sonnenhauch, der wie glosender Tau kupferrot auf den dicken, getönten Glasscheiben lag, mit einem müden Reflex, der häufig unter den Wolkenschatten wieder erstickte. Das linke Panorama hingegen bot eine berückende Augenweide.
   Fernab, unterhalb der riesigen, rot glühenden Scheibe am purpurnen Horizont, ragten schwarze Stäbe in den aufgeworfenen Himmel, Grab-obelisken, die Gebeine der Skyline der Ostmetropole, die zum Teil die riesige Flammenscheibe durchdrangen. Darunter die Schatten wie Gräber der Gebeine auf dem parkähnlichen Zentralfriedhof der Metropole. Gebettet in Dunst und Morgentau. Panko schaute nach rechts aus dem Fenster: dasselbe wie zuvorderst. Müde dreinblickend drehte er seinen Kopf zur Seite und erheischte aus dem rechten Augenwinkel einen heranhopsenden, kleinen Jungen.
   Er folgte ihm mit seinem Blick ein wenig argwöhnisch und wandte sich sofort dem Aufzug zu, worin der Knabe, Grimasse schneidend, fröhlich trällernd und hüpfend, mit einem Tornister auf den Rücken geschnallt, hinter der sich rasch schließenden Tür verschwand. Noch ehe Panko erst richtig begriff und zum Türöffner gelangen konnte, war der Lift bereits wieder unterwegs.
   Wutschnaubend stampfte Panko auf den Fußboden und ging zum Treppenhaus hinüber. Er stand vor der breiten Treppe und überlegte noch kurz, ob er treppab oder treppauf gehen solle. Dabei sei das doch eigentlich klar wie Kloßbrühe. Zur Arbeit ginge es treppab. Warum sollte er auch treppauf gehen? Und dennoch entschied er sich fürs Austentern.

    »Eene, meene, meck ...«
   Er strebte die Treppe des Wohnturmes empor, begab sich auf den Wäscheplatz und setzte sich auf einen der kniehohen Betonpflöcke, die dort eher nutzlos als Zierat umherlagen. Den Kopf in beide Hände gebettet, döste er gens Morgenrot, das plötzlich von einer dunkelgrauen Wolkenfront verdrängt wurde. »Nicht einmal aufs Wetter kann man sich verlassen.«
   Nach Sekunden des Grübelns besann er sich wieder, sprang unvermittelt vom Rand des Betonklotzes auf, lief eilends zur Treppe, rannte eine Etage tiefer und wollte schließlich den Lift abwärts nehmen, musste allerdings feststellen, dass der Aufzug aus unerfindlichen Gründen jetzt nicht mehr funktionierte. Nach weiteren zwei Minuten des Abwartens beschloss er, die Treppe zu nutzen.
   Im Erdgeschoss angekommen, vernahm er, dass jemand die Fotozelle des Lifts mit schwarzem Textilband verklebt hatte. »Dieser verflixte Lümmel«, dachte er bei sich, hielt nochmals Ausschau nach dem Jungen, doch der war längst übner alle Berge. Das störte ihn jetzt aber auch nicht mehr sonderlich, schlimmer fand er es, dass es inzwischen in Bindfäden goss und er seinen Schirm nicht dabei hatte. Solle er jetzt noch einmal zurück in die Wohnung und den blöden Schirm holen? »Blödsinn, ist gewiss nur ’n kleiner Schauer«.
   Eine zerknitterte, bunte Gummibärchentüte schwamm von der Seite in der Gosse herbei, strandete an Pankos Knöchel, als er in Begriff war, die Straße zu überqueren und indes unversehens mit seinem Fuß in einer Regenlache stand. Ein flüchtiger Blickkontakt mit dem Ziffernblatt der Stationsuhr an der Bushaltestelle ließ ihn verärgert zischen. Nun bereute er für einen Moment lang sein Intermezzo auf dem Dachplatz, bei dem er so viel Zeit vertrödelt hatte.
   »Kein guter Tag!« raunte er vor sich hin, fürderhin mit einem Fuß im Wasser stehend.
   Glücklicherweise kam dann doch sogleich ein Bus, der allerdings proppenvoll gestopft war mit Berufspendlern, Schülern und Studenten, die Morgen für Morgen aufs neue die unzähligen Discountmärkte, Fabriken, Geschäftszentren, Bürohäuser, Handwerksbetriebe und Bildungsinstitute eroberten. Immer wieder derselbe Tross im selben Trott, dasselbe Gedränge und Gerangel um Sitzplätze. Meistens jedoch war der tägliche Kampf um die besten Sitz- und Stehgelegenheiten bereits ausgefochten, wenn der Bus diese Haltestelle erreicht hatte. So auch an diesem Morgen.
   An der U-Bahnstation stieg Panko dann um. Sein rechter Arm kribbelte noch ein wenig vor Erlahmung vom Festhalten in den Schlaufen der Haltestangen im Bus, immerhin hatte er noch eine Halteschlaufe ergattern können. Er reihte sich ein in die Kette des Menschenstromes auf der Rolltreppe. Diesmal hatte Panko Glück, die U-Bahn seiner Linie war soeben mit nur einer Handvoll Fahrgästen eingetroffen. Flugs pflanzte er sich auf eine der harten, ungepolsterten, grellgrünen Plastiksitzschalen, welche zuvor von einem alten Mann am Stock geräumt wurde und noch angewärmt war.
   Panko starrte wie absent in die Menge der schlaftrunkenen Gesichter des Großraumabteils, dann verträumt an der Frau neben sich vorbei aus dem Fenster, wo soeben grauer Beton an ihm vorüberschnellte.

   Karbolineumgetünchte Telefonmasten rändlings der Geleise warfen ihre langen Schatten durch das spaltbreit geöffnete Schott ins Innere des Waggons, während sie mit verlangsamtem Tempo vorbeistelzten, als die Bahn unter Schwellengeratter einfuhr.
   Die beiden Buben steckten ihre Hälse hervor und lugten verstohlen aus dem abgebremsten Waggon. Sprangen, als der Zug gänzlich zum Stillstand gekommen, herunter auf das Abfertigungsgelände des Güterbahnhofs und suchten erst mal Deckung hinter einem der Gepäckanhänger.
   »Wo wir wohl sind?« wisperte Walter in nachdenklichem Unterton.
   Der andere Junge zuckte mit den Achseln, schlug dennoch vor, sich vorsorglich zuerst einmal davon zu schleichen. Dann täten sie schon weitersehen. Des Freundes Worte klangen tröstlich, und das sollten sie auch. Umsichtig und leise, wie wenn sie zuhause Cowboy-und-Indianer spielten oder Räuber-und-Gendarm und sie sich an ihre Opfer heranpirschten, derart machten sie sich jetzt aus dem Staube.
   Der Bahnhof lag etwas abseits, außerhalb einer norddeutschen Kleinstadt, wo aus der Ferne die Kirchturmspitze über die Dünen hinweg zu sehen war. Die beiden Kinder tobten einen geschotterten Weg entlang, bis sich ihnen rücklings ein Traktor näherte, dreimal kurz hintereinander hupte und stoppte.
   Der Treckerfahrer, ein stoppelbärtiger Mann mit Bommel-Strickmütze, bot den beiden an, mit ihm in die Stadt fahren zu können, was beide dankend annahmen.
   Dem Kirchenportal vorgelagert befand sich der Marktplatz, der von kunterbuntem Treiben voller Vitalität und emsiger Geschäftigkeit beherrscht wurde. Dort war vorerst Endstation für beide Knaben, die sich bei dem liebenswürdigen Stoppelbärtigen für die Mitfahrgelegenheit herzlich bedankten und im Getümmel der Marktleute und Bummler untertauchten.
   Lieblich süße, frische und herbe Düfte nach ungarischem Paprika, regionalem Kopfsalat, Kohl, Gurken, Erdbeeren aus Holland und anderen Feld- und Gartenfrüchten sowie Fisch- und Muschelgerüche schwängerten die auf den Lippen salzig schmeckende Luft an diesem Ort. Die zwei Knaben lächelten einander zu und zuckelten los. Mit schnuppernden Nasen von Stand zu Stand.
   Ungefähr so ziemlich in der Mitte des Marktes thronte ein altertümlich anmutender, jedoch gut in Schuss gehaltener, einachsiger Handkarren mit zwei riesigen Scheibenrädern aus massivem Holz. Auf jenem Karren prangte eine Anzahl handgeflochtener Weidenkörbe, in denen Obst, Gemüse und Honig aus eigener Imkerei zu nicht gerade Schleuderpreisen feilgeboten wurde. Und trotzdem, die Leute kauften dort wie verrückt. Einen Stand davor, dahinter oder daneben hätte es qualitativ wohl kaum minderwertigere Ware zu mitunter erheblich günstigeren Preisen gegeben, aber das schien denen, die eben doch bei der alten Frau mit ihrem alten Karren ihre Einkäufe tätigten, vollkommen gleichgültig zu sein. Es war jene Gattung von Konsumenten, die zu den ersten Besitzern eines Fernsehers zählten.
   Dieser Marktstand hatte Tradition und weckte in so manchem ein Gefühl von Sentimentalität in jenem Flair von Nostalgie, bei dem sich der Betrachter um Jahrhunderte zurückversetzt wähnte, was auch gewiss zur allgemeinen Attraktivität des gesamten Marktgeschehens beigetragen haben mochte.
   Walter rümpfte die Nase, als wittere er etwas ihm wohlbekanntes. »Ui, Tomaten. So pralle, rote, dufte Tomaten«, schwärmte Walter.
   Unverrichteterdinge trullerte eine große Tomate aus einer von vier Vogeltrittholzkisten, kullerte in die nächst darunter gestellte Kiste über andere rote, hochglanzpolierte Nachtschatten-Bälle hinweg, dem Rand zu und schließlich darüber hinaus.
Pfeilschnell versuchte die dürre Marktfrau sie zu greifen, vergebens. Anders mit Walter, der intuitiv reagierte und die Tomate im Fall auffing und vorm Zerplatzen auf den kleinen basaltblauen Katzenköppen rettete.
   Die gertenhafte, mit einem ornamentreichen, chaotisch bunten Kopftuch beschmückte Frau lobte die erstaunliche Reaktion des flinken, rothaarigen Jungen mit dem großkarierten Hemd und wollte dies belohnen, indem sie ihm, Walter, die Tomate überließ, mit den Worten, er solle es sich schmecken lassen.
   Keck, wie Walter mit seinen neun Jahren nunmal war, feixte er, dass es ihm noch viel, viel besser schmeckte, wenn er sie ganz alleine essen könnte. Aber da sei ja noch sein Freund, dabei zeigte er, brav bübisch dreinschauend, mit dem Finger auf den dunkelblonden Knaben neben sich, der daraufhin großzügigerweise ebenfalls eine Tomate geschenkt bekam.
   »Meine Tomaten sind die besten hier auf diesem Markt. Ehrlich«, beteuerte sie, »und dabei noch viel billiger, als bei der da.«
Sie zeigte missgönnerisch und mit gestrecktem Arm auf die alte Frau hinter dem frühmittelalterlichen Holzkarren auf dem Kopfsteinpflaster. Die beiden Knirpse nickten einträchtig, verabschiedeten sich von der spindeldürren Marktfrau mit dem großen Herzen und stromerten fürbass, indessen heißhungrig die Tomaten schlemmernd.
   Sie zuckelten gerade die Lornsenstraße herlang, als ihnen ein Schupo entgegenspazierte. Die Straßenseite zu queren, wäre zu auffällig gewesen, so pfiff Walter ein fröhliches Liedchen an. Beide grüßten den Uniformierten ganz höflich mit Diener und ließen sich nichts anmerken.
   »Jetzt bloß nicht umdrehen«, flüsterte der Rothaarige im großkariertem Hemd und pfiff weiter seinen Gassenhauer. Weil der kleine Panko in jener Situation auch etwas zum Besten geben wollte, setzte er zu einem seitlichen Sprung an, dass beide Beine kurz in der Luft waren und mit den Hacken aneinander schlugen, und ... Legte sich prompt auf die Klappe. Schürfte sich daumengroß eine Stelle am Knie, dass sofort ein wenig Blut nach oben sickerte und ihm ein unangenehmes Zwiebeln versetzte. Doch er biss die Zähne zusammen, mimte das tapfere Kerlchen und kam flugs wieder in das Schritttempo seines Freundes hinein.
   Der Schutzpolizist in der antiquierten Uniform mit einem Tschako als dienstliche Kopfbedeckung, stoppte kurz, machte kehrt und erkundigte sich nach dem Wohlbefinden des Knaben.
   Panko signalisierte ein Okay mit seiner rechten Hand. Das ovale Metallauge des Tschakos blickte wie ein drittes Auge erhaben und stolz auf ihn herab. Gute drei Meter trennten sie voneinander. Er dachte daran, wegzulaufen – und tat es. Peste unvermittelt los, dass Walter sich kurz erschrak und dann mit Spätzündung hintendrein sprintete.
   Dem Schupo schien das keinesfalls ungewöhnlich, dass sich die beiden Lausbuben pfeilschnell aus dem Staube machten. »Wer weiß, was die beiden ausgefressen haben, will ich lieber nicht wissen. Aber – vielleicht speelen se ja och nur ...«
   Mit Walter konnte man Pferde stehlen – und Automobile. Panko und Walter waren mittlerweile Profis in Sachen Tagesausflügen. ....

 

Auszug von: Zwei Kerle, die auszogen und nicht wiederkamen (Roman)


   In den frühen Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts hatte es sich zugetragen.

  Gleich am Anfang des Jahres ist ein Schlumpf schweizerischer Bundespräsident geworden. Der erste Mac kam auf den Markt. Als Antwort auf die Pershings im Westen wurden nun die SS20 in der DDR postiert. Die Völker und deren Entscheider spielten mal wieder verrückt. Auf geniale Weise und doch nicht weit genug vom Wahnsinn entfernt. Die Uhr des Lebens tickte schneller, nicht für jeden, doch für die meisten.

   Nicht ganz geräuschlos rollte die hellblaue, mit vielerlei bunten Pril-Blümchen-Aufklebern bekleisterte Kastenente, unmittelbar vor das Portal des Hauptbahnhofs. Das Schnattern des Motors brach mit der Stille des lauen Frühlingsabends.

   »Hast du noch‘n bisschen Zeit, Linda? Ist immer ziemlich öde, nachts allein im Bahnhof. Ständig wird frau von irgend‘nem Kerl blöd angequatscht oder von Trunkenbolden angepöbelt. Das nervt. Aber, wenn du es eilig haben solltest, dann ...«

   »Ach was, auf‘ne Zigarettenlänge habe ich allemale noch Zeit. Sag, Zyndia, wie lange hast du eigentlich noch Aufenthalt?« Indessen kramte sie eine rotweiße Pappschachtel aus ihrer Strickjackentasche hervor, fingerte eine Fluppe heraus und zündete sie an.

   »Noch ungefähr zwei Stunden bis der Zug eintrudelt. Dann noch eine weitere halbe Stunde Fahrzeit und etwa zwölf Minuten zu Fuß. Ist zwar kein Pappenstiel, aber geht schon klar«.

   »Magst du vielleicht auch‘ne Zichte?«

   »Nein, danke, ich kurbel mir eine. War heut‘ wieder‘ne beschissene Nacht, was?« bemerkte Zyndia seufzend.

  »Tja, das kann frau wohl getrost behaupten. Ich meine, war wieder‘ne Menge los«, bestätigte Linda, meinte nach einer knappen Pause gedankensprüngig, dass zwei Stunden ja eine verdammt lange Zeit wäre. »Was tust du denn solange, um dir die Langeweile zu vertreiben? Mir wär das zu fad, dort herumzulungern bis endlich der Zug eintrifft«.

   »Na ja, ich lese da gerade ein ganz tolles Buch: Der veruntreute Himmel, von Franz Werfel«.

   »Kenn‘ ich gar nicht«, bekannte Linda und schien mit diesem Autor wirklich nicht das Geringste anfangen zu können.

  »Die vierzig Tage des Musa Dagh«? schob Zyndia nach.  
  »Gedichte?« fragte Linda dann wortkarg.
  »Ne, ein Roman. Bin ihn erst angefangen. Doch das Ende gefällt mir schon gut«.
  »Das Ende?«  
  »Wenn ich ein Buch kaufe, lese ich erst die letzten Seiten vorweg. Entscheide dann, ob ich es kaufen sollte. Ich glaube, viele tun das. Auf jeden Fall heißt es dort: Der veruntreute Himmel ist der größte Fehlbetrag unserer Zeit. Seinetwegen kann die Rechnung nicht aufgehen. Er beschreibt damit bestechend die Gegenwart, die Gegenwart heute und die Gegenwart von damals, die kaum wie Vergangenheit anmutet«, erklärte Zyndia.
  »Äh – ziemlich abstrus.«
  Zwei Glutpunkte glosten auf, hüllten zwei Gesichter in hellrotes Leuchten. Und im Nu legte sich wieder die Schattenhand der Nacht über beide, dass bloß noch ihre Silhouetten vage im Auto zu erkennen blieben. Nikotinrauch schlingerte in schmalen Fäden empor, formierte sich zu winzigen Puffwölkchen, die sich von innen nach außen wälzten, und benetzte den falben Himmel des Fahrgastraumes mit dem typischen Teint vieler Raucherautos.
  Eine Gestalt scharwenzelte um die hellblaue Kastenente, klopfte schließlich mit den Fingerknöchelchen seiner klauenartigen Hand an die Scheibe der Fahrertür. Jäh und eiskalt floss über beider Insassen ein Schauer. Vom ersten Schreck erholt, öffnete Linda das Seitenfenster, schwenkte es nach außen hoch, sah sich einer finsteren Miene mit dunkelblauer Schirmmütze, wie sie die hiesige Bahnpolizei zu tragen pflegt, gegenüber.
   »Hier dürfen Se aber unmöglich stehn bleiben, junge Frau. Das is nich erlaubt«, tadelte der Uniformierte, dessen Gesicht nun, durch die Gewöhnung der Augen an die Dunkelheit, deutlicher auszumachen war.
   »Wieso?« fragte Linda in ihrer Verblüffung kritisch, aber noch durchaus freundlich.
   »Wie-so«, frotzelte der blaue Papagei. »Warum wohl? Weil Se hier im Parkverbot stehn, und das schon’ne geraume Weile«.
   »Aber«, widersprach Linda kess, »ich parke doch gar nicht. Ich halte doch nur, wenn’s gestattet ist, mein Herr«. Und ein liebenswürdiges, keinesfalls unflätiges Schmunzeln wogte in ihrem Gesicht und zerschellte am sich erkühnenden Schnabel.
   »So gehts jedenfalls nicht. Wenn Se sich jetzt bitte schicklichst in eine dieser Parklücken bemühen möchten!« verwies sie der Beamte und schrankte seinen Arm, deutete mit der flachen Hand zu einer Stelle, zwischen einigen geparkten Autos. In seiner Stimme, welche zunächst noch höflich klingen sollte, bebte ein spürbares Maß an Ungehaltenheit und gezügeltem Verdruss.
   »Okay, Sir, wird umgehend erledigt. Wenn es Ihnen Freude macht. Obwohl wir hier niemanden behindern — aber egal, ganz wie Sie wünschen«, gab Linda devot bei und startete den Motor.
   »Ob Sie, Madame ...«, begann der Beamte, dieses Mal ziemlich klar akzentuiert, wurde jedoch seitens Linda unterbrochen.
   »Mademoiselle, bitte. Wenn’s Ihnen nicht allzu viel ausmacht«, fiel sie ihm barsch ins Wort.
   »Gewiss nicht, Mademoiselle. Doch lass’n Se’s sich gesagt sein, ob Sie hier jemanden behindern oder nicht, ist vollkommen gleichgültig. Das Parken is’ hier strikt untersagt, so oder so, wie Se’s auch drehen oder wenden. Vorschrift is’ eben Vorschrift, meine Dame. Und im Übrigen hört sich Ihr Auspuff auch nich’ gerad’ gesund an, muss durchlöchert sein wie’n Schweizer Käse. Sollt’n sich schleunigst drum kümmern. So, das wär’s dann schon. Gute Nacht allerseits«, verabschiedete sich der Herr in der blauen Uniform und verschwand im Dunkel der Nacht.


Auszug von: Die Schwere einer Nacht (Erzählung)